brief an jochen gerz

basel, 11 .1 2. 1 997

 

 

lieber jochen,

 

habe Dein interview in der NZZ gelesen und bin nicht nur überhaupt nicht einverstanden, sondern find’s schrecklich – Dein satz „nur die zeit ist das messer, das die wunde offen lässt etc.“ zeigt mir endlich den kern Deiner gedenkstätten-arbeiten, bei denen mir immer unwohl war – mit ausnahme des ‚dachau-projektes‘, das ich nach wie vor grossartig finde in seiner ganzen schärfe. dieser satz zeigt mir diese deutsche lust, im zustand des ewigen „in den alten wunden wühlen“ zu verharren, statt die wunden verheilen zu lassen, die narben zu tragen und durch diesen natürlichen zeitablauf – was für ein schöner satz : „die zeit heilt alle wunden“ gefasster, interessierter, vielfältiger und „als vorbei“ die geschichte zu betrachten.

 

ich finde diesen holocaustgedenkstättenwahn in deutschland besonders abscheulich, diese pseudowiedergutmachung meiner generation intellektuell schwammig und masochistisch. diese generation deutscher war schliesslich nicht persönlich beteiligt, das ist zwar keine“gnade“, aber doch eine tatsache.

 

auch Du geniesst ganz offensichtlich Deinen status als spezialist des gedenkens in form von gegenwarts kunst – sei’s drum…

 

 

 

zum abschluss noch ein gespräch mit meinem vater, bei dem wir so lachen mussten:

 

miriam: und überhaupt diese ganze oberpeinliche sache mit dem holocaustdenkmal…und was mich vor allem nervt, ist dieses ständige betonen auf einem „ort der stille“, wie wenn sowas „erholsam“  sein soll mitten im zentrum einer grossstadt – „ort der stille“ –  könnt‘ mich grad reinsteigern…

vater: „ort der stille“? eigentlich sollte es „stilles örtchen“ heissen…

miriam: genau, die sollten dort ein WC-häuschen bauen.

vater: genau, und ausgewiesene holocaust-opfer dürfen gratis dort pinkeln…

miriam: während die andern zahlen müssen, und das kommt dann in einen holocaust-fonds.

 

 

herzlich  miriam